Europaparlament billigt neue EU-Schuldenregeln

23.04.2024 14:02

Monatelang wurde über Europas neue Regen für Haushaltsdefizite und
Staatsschulden diskutiert. Die EU-Abgeordneten sprechen sich nun für
einen umstrittenen Kompromiss aus. Zufrieden sind nicht alle.

Straßburg (dpa) - Das Europäische Parlament hat den Weg für neue
Regeln für Haushaltsdefizite und Staatsschulden in der EU frei
gemacht. Die Abgeordneten stimmten am Dienstag in Straßburg
mehrheitlich einem umstrittenen Kompromiss für die Reform des
sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakts zu. Demnach sollen
künftig etwa klare Mindestanforderungen für das Senken von
Schuldenstandsquoten für hoch verschuldete Länder gelten.
Gleichzeitig soll bei EU-Zielvorgaben die individuelle Lage von
Ländern stärker berücksichtigt werden. 

Bundesfinanzminister Christian Lindner nannte den Beschluss wertvoll.
«Europa bekommt klare Regeln für stabile Staatsfinanzen», sagte der
FDP-Politiker. Deutschlands zentrales Anliegen - «finanzpolitische
Stabilität» - finde sich in den Gesetzestexten wieder. «Wir bekommen

klare Regeln für den Schuldenabbau, die dann auch mit einer
realistischen Perspektive durchgesetzt werden können.» 

Grundsätzlich soll in der EU unter den neuen Vorschriften auch
weiterhin gelten, dass der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60
Prozent der Wirtschaftsleistung nicht überschreiten darf. Zudem soll
das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit - also die vor allem durch
Kredite zu deckende Lücke zwischen den Einnahmen und Ausgaben des
öffentlichen Haushalts - unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) gehalten werden. 

Darüber hinaus sind unter anderem Schutzmaßnahmen geplant: Hoch
verschuldete Länder (Schuldenstand von über 90 Prozent) sollen ihre
Schuldenquote jährlich um einen Prozentpunkt senken müssen, Länder
mit Schuldenständen zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpunkte.

Gleichzeitig soll die für die Aufsicht zuständige EU-Kommission in
einem Übergangszeitraum bei der Berechnung der
Anpassungsanstrengungen den Anstieg der Zinszahlungen berücksichtigen
können. Wenn Mitgliedstaaten glaubhafte Reform- und Investitionspläne
vorlegen, die Widerstandsfähigkeit und Wachstumspotenzial verbessern,
soll auch der Zeitraum zur Schuldenverringerung verlängert werden
können.

Der CSU-Abgeordnete Markus Ferber, wirtschaftspolitischer Sprecher
der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, begrüßte die Annahme.
«Mit den neuen EU-Schuldenregeln kehren wir zu einer
verantwortungsvollen EU-Haushaltspolitik zurück.» Das neue Regelwerk
schaffe mehr Klarheit und stelle die Wirtschafts- und Währungsunion
auf ein solides Fundament. 

Kritiker hingegen betonten stets, dass die Regeln nötigen
Investitionen etwa in Klimaschutz oder in den sozialen Bereich die
Luft abschnürten. Eine Analyse vom Europäischen Gewerkschaftsbund
(EGB) und der New Economics Foundation (NEF) war Anfang April zu dem
Ergebnis gekommen, dass bei Einhaltung der geplanten Regeln ab 2027
nur noch Dänemark, Schweden und Irland in der Lage seien, sich
notwendige Ausgaben zu leisten. Auch in Deutschland würden demnach
Investitionen stark gehemmt, hieß es.

Auch die Grünen kritisierten die Reformpläne. «Anstatt
Schuldentragfähigkeit, nachhaltige Finanzen und ausreichend Raum für
Investitionen in die grüne Transformation zusammenzurechnen, setzten
die neuen Regeln trotz gebotener Vorsicht beim Thema
Gegenfinanzierung auf einen Schuldenabbau, der den Bedürfnissen
dieser Zeit nicht gerecht wird», sagte die Europaabgeordnete Henrike
Hahn nach der Abstimmung.

Der Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion, Manfred Weber, sagte,
die Grünen spielten mit dem Feuer. «Sie haben nichts aus der
Euro-Krise gelernt.» Es reiche nicht, nur bei Sonntagsreden
pro-europäisch zu reden, entscheidend sei das politische Handeln.

Vertreter des Europaparlaments und der Regierungen der
Mitgliedstaaten hatten sich Anfang Februar nach langer Debatte auf
den umstrittenen Kompromiss verständigt. Nach der Abstimmung im
Plenum des Europaparlaments müssen auch noch die EU-Staaten die neuen
Regeln bestätigen. Das ist in der Regel Formsache und für kommende
Woche vorgesehen.

Das bisherige Regelwerk zur Überwachung und Durchsetzung dieser
Vorgaben wird von Kritikern seit langem als zu kompliziert und zu
streng angesehen. Deswegen soll es reformiert werden. Bei Übertreten
der Obergrenzen können Schulden-Strafverfahren, sogenannte
Defizitverfahren, eingeleitet werden. Dann muss ein Land
Gegenmaßnahmen einleiten, um Verschuldung und Defizit zu senken.
Damit soll vor allem die Stabilität der Eurozone gesichert werden. 

Zuletzt waren die Strafverfahren wegen der Corona-Krise sowie der
Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt. Vor allem
2020 lagen die Defizite in fast allen EU-Ländern deutlich über der
Drei-Prozent-Marke. Ab diesem Frühjahr sollen die Defizitverfahren
wieder eröffnet werden können. Nach jüngsten Daten des
EU-Statistikamtes Eurostat brachen mehrere Länder im vergangenen Jahr
die Regeln.

Grundlage der nun getroffenen Einigung für die Reform der aus den
1990er Jahren stammenden Regeln waren Vorschläge der EU-Kommission.
Vor allem von der Bundesregierung waren diese allerdings als zu
weitreichende Aufweichung des sogenannten Stabilitäts- und
Wachstumspakts kritisiert worden. Die Regierungen der EU-Staaten
hatten sich deswegen nach monatelangen Verhandlungen auf etliche
Veränderungen verständigt.