EU-Parlament stimmt über neue Schuldenregeln ab

23.04.2024 04:55

Nach langer Debatte steht seit Februar ein Kompromiss zu neuen Regeln
für Haushaltsdefizite und Staatsschulden. Der ist allerdings alles
andere als unumstritten. Nicken die Abgeordneten ihn ab?

Straßburg (dpa) - Das Europaparlament stimmt an diesem Dienstag (ab
12.00 Uhr) über neue Regeln für Haushaltsdefizite und Staatsschulden
in der EU ab. Demnach soll bei EU-Zielvorgaben für den Abbau zu hoher
Defizite und Schulden die individuelle Lage von Ländern stärker
berücksichtigt werden. Gleichzeitig sehen die neuen Pläne unter
anderem klare Mindestanforderungen für das Senken von
Schuldenstandsquoten für hoch verschuldete Länder vor. 

Vertreter des Europaparlaments und der Regierungen der
Mitgliedstaaten hatten sich Anfang Februar nach langer Debatte auf
den Kompromiss verständigt. Nach der Abstimmung im Parlamentsplenum
müssen auch noch die EU-Staaten die neuen Regeln bestätigen. Das ist
in der Regel Formsache und für kommende Woche vorgesehen.

Was künftig gelten soll

Das bisherige Regelwerk zur Überwachung und Durchsetzung der Vorgaben
für Schulden wird von Kritikern seit Langem als zu kompliziert und zu
streng angesehen. Grundsätzlich soll in der EU weiterhin gelten, dass
der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent der
Wirtschaftsleistung nicht überschreiten darf. Zudem gilt es, das
gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit - also die vor allem durch
Kredite zu deckende Lücke zwischen den Einnahmen und Ausgaben des
öffentlichen Haushalts - unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) zu halten. 

Darüber hinaus sind Schutzmaßnahmen geplant: Hoch verschuldete Länder

(Schuldenstand von über 90 Prozent) sollen ihre Schuldenquote
jährlich um einen Prozentpunkt senken müssen, Länder mit
Schuldenständen zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpunkte. Auf
diese Bedingung hatte vor allem Deutschland gepocht.

Gegner sehr strenger Regeln setzten durch, dass die für die Aufsicht
zuständige EU-Kommission in einem Übergangszeitraum bei der
Berechnung der Anpassungsanstrengungen den Anstieg der Zinszahlungen
berücksichtigen kann. Wenn Mitgliedstaaten glaubhafte Reform- und
Investitionspläne vorlegen, die Widerstandsfähigkeit und
Wachstumspotenzial verbessern, soll auch der Zeitraum zur
Schuldenverringerung verlängert werden können.

Geplante Regeln sind umstritten

Die Meinungen zum erzielten Kompromiss gehen auseinander. So hatte
etwa die belgische EU-Ratspräsidentschaft mitgeteilt, die neuen
Regeln würden dazu beitragen, ausgewogene und auf Dauer tragfähige
öffentliche Finanzen zu erreichen sowie Strukturreformen
durchzuführen. Aus seiner Sicht überwögen die positiven Aspekte,
sagte der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Die EVP-Fraktion im
Parlament wolle zustimmen.

Kritiker hingegen betonten, dass die Regeln Investitionen etwa in
Klimaschutz oder im sozialen Bereich die Luft abschnürten. Eine
Analyse vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) und der New
Economics Foundation (NEF) war Anfang April etwa zu dem Ergebnis
gekommen, dass bei Einhaltung der geplanten Regeln ab 2027 nur noch
Dänemark, Schweden und Irland in der Lage seien, sich notwendige
Ausgaben zu leisten. Auch in Deutschland würden demnach Investitionen
stark gehemmt, hieß es.

Ebenso stehen die Grünen im Europaparlament dem Kompromiss kritisch
gegenüber und nennen die geplante Reform eine «verpasste Chance». Es

gehe vor allem um die Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft,
sagte der deutsche Grünen-Abgeordnete Rasmus Andresen.

Was sind die Folgen?

Bei Übertreten der Obergrenzen können Schulden-Strafverfahren,
sogenannte Defizitverfahren, eingeleitet werden. Dann muss ein Land
Gegenmaßnahmen einleiten, um Verschuldung und Defizit zu senken. Das
soll vor allem die Stabilität der Eurozone sichern. 

Zuletzt waren die Strafverfahren wegen der Corona-Krise sowie der
Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt. Vor allem
2020 lagen die Defizite in fast allen EU-Ländern deutlich über der
Drei-Prozent-Marke. Ab diesem Frühjahr sollen die Defizitverfahren
wieder eröffnet werden können. Nach jüngsten Daten des
EU-Statistikamtes Eurostat von Montag brachen mehrere Länder im
vergangenen Jahr die Regeln.

Grundlage der nun getroffenen Einigung für die Reform der aus den
1990er Jahren stammenden Regeln waren Vorschläge der EU-Kommission.
Vor allem die Bundesregierung hatte sie kritisiert, weil sie den
sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt zu stark aufweiche. Die
Regierungen der EU-Staaten hatten sich deswegen nach monatelangen
Verhandlungen auf etliche Veränderungen verständigt.